Umgeben ist sie von Freundinnen und Bekannten und vielen Verwandten, der Tochter, dem Schwiegersohn, den Enkeln, den Schwestern, Nichten und Neffen und sogar einem Mops. Alle halten ein voll gefülltes Sektglas hoch - von den Kindern und dem Mops selbstverständlich abgesehen - und wollen anstoßen, doch noch ist es nicht soweit, die Jubilarin bedankt sich bei allen Gästen fürs Kommen und hat noch etwas mitzuteilen, so viel Zeit müsse schon sein, gerade mit 80, ihr seien nämlich vor kurzem ein paar schöne Zeilen zugeflogen, sinnreiche und einleuchtende Zeilen, die jetzt vorzutragen, ihr mehr als passend erscheine, Zeilen der Heiligen Teresia von Avila, die schon über 425 Jahre tot sei, doch was sie da geschrieben hätte, wäre durchaus von Bestand und es füge sich zudem ausgezeichnet, dass sie als Älteste hier im Raum den kleinen Text vortrüge, der eigentlich ein Gebet sei und den Titel habe "Gebet des älter werdenden Menschen" und so hob Ursula an und rezitierte und alle Gäste, selbst die Allerkleinsten und sogar der erst zweieinhalb Jahre alte Mops, lauschten dem Geburtstagskind mit großem Gewinn:
"O Gott, Du weisst besser als ich,
dass ich von Tag zu Tag älter
und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung,
bei jeder Gelegenheit und zu
jedem Thema
etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der grossen Leidenschaft,
die Angelegenheiten
anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich aber nicht grüblerisch,
hilfreich aber nicht diktatorisch zu sein.
Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit
erscheint es mir ja schade, sie nicht weiterzugeben
- aber Du verstehst,
o Gott,
dass ich mir ein paar Freundinnen erhalten möchte.
Lehre mich schweigen
über meine Krankheiten und Beschwerden.
Sie nehmen zu - und die Lust, sie zu beschreiben,
wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir die Krankheitsschilderungen anderer
mit Freuden anzuhören,
aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Lehre mich, an anderen Menschen
unerwartete Talente zu
entdecken,
und verleihe mir, o Gott, die schöne Gabe,
sie auch zu erwähnen
Ich möchte keine Heilige sein
- mit ihnen lebt es sich so
schwer -,
aber eine alte Griesgrämin
ist das Krönungswerk des Teufels."
3 Kommentare:
Ach, jueb,
das sind wunderschöne, berührende und nachdenklich machende Zeilen
Und sie erinnern mich daran: http://www.jadu.de/religion/desiderata/weisheiten.html
Liebe Grüße
Inge
bitte nach dem Punkt - auch Dot genannt - das verschluckte "html" ergänzen, dann funktioniert der Link zu Desiderata
LG
Inge
Hallo liebe Inge,
das freut mich sehr! Diese Zeilen haben schon einige LeserInnen beschäftigt und mich bewegen sie auch.
Herzlichst
(auch an Dühnfort)
jueb
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